Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 4/2022: Alumni Tübingen

Die Bretter, die seine Welt bedeuten

Dramaturg an der Staatsoper Hannover: Ein Interview mit Alumnus Martin Mutschler

Welche Fächer haben Sie an der Universität Tübingen studiert?

Ich habe an der Universität Tübingen Romanistik, Slavistik und Kunstgeschichte studiert. Die Auseinandersetzung mit den jeweiligen Fächern hat mir viel Freude bereitet, und ich war auch sehr gerne an den verschiedenen Instituten, allen voran am Slavischen Seminar. Das Slavische Seminar engagiert sich auf besondere Weise für seine Lehrinhalte und vor allem auch für seine Studierenden. 

Inwiefern prägt Ihr Studium Ihre Arbeit am Theater?

Mein Studium hat mich sehr geprägt. Es hat mich gelehrt, konzeptuell zu denken und Prozesse gedanklich zu Ende zu führen. Zudem führte es mir eindrücklich vor Augen, warum die Auseinandersetzung mit spanischer Barocklyrik, flämischer Malerei des 15. Jahrhunderts oder gar tschechischer Avantgarde-Literatur kein dekadenter Zeitvertreib ist: Diese verschiedenen Werke bilden Kulturleistungen ab, die mithelfen können, unser heutiges Kulturverständnis zu verstehen.

An der Universität Tübingen gibt es eine große Anzahl an studentischen Theatergruppen, in zwei davon haben Sie mitgespielt. Erzählen Sie uns von dieser Zeit.

Ich habe während meines gesamten Tübinger Studiums im Brechtbautheater gespielt. Zuerst in der Schauspielgruppe des spanischen Seminars „Los Titiriteros“, später dann bei „Die Zuwiderstehlichen“ – einer Gruppe, die aus „Los Titiriteros“ entstanden ist, aber auf Deutsch spielte.

Im Brechtbautheater hatte man automatisch immer mehr als nur eine Rolle: Wir standen zwar alle auch auf der Bühne, suchten aber gleichzeitig gemeinsam Kostüme aus oder hängten beispielsweise Scheinwerfer ein. Ich habe zudem noch Musik geschrieben und war immer auch dramaturgisch beteiligt. Eines meiner Lieblingsstücke aus meiner Tübinger Zeit produzierte ich gemeinsam mit meinem Freund Jan Halmazňa: eine dadaistische Collage, die auf den Texten des russischen Autors Daniil Charms basierte. 

Welche Stationen schlossen sich an Ihre Tübinger Studienzeit an?

Zum Abschluss meines Studiums zog ich aus privaten Gründen nach Bremen, um dort meine Magisterarbeit zu schreiben. In Bremen ging ich häufig ins Theater und erhielt dort auch Einblicke in das Geschehen, das sich hinter der Bühne abspielte. Der Aufbruchsgeist, der an diesem Theater herrschte, riss mich mit, und ich begann, erst in Bremen und später am Oldenburgischen Staatstheater, zu hospitieren. Ich merkte sehr schnell, dass ich am Theater den Ort gefunden hatte, nach dem ich mich immer gesehnt hatte, den Ort, an dem ich meine Interessen, meine Studieninhalte und meine Talente gebündelt anwenden konnte. Nach dieser Erfahrung beschloss ich, in Hamburg Musiktheaterregie zu studieren. Das musiktheoretische und theaterpraktische Wissen, das ich dort erlangte, brachte ich als freiberuflicher Dramaturg, Regisseur, Musiker und gelegentlich Schauspieler in verschiedene Theaterarbeiten ein – bis mir meine jetzige Position als Dramaturg an der Staatsoper Hannover angeboten wurde. 

Beschreiben Sie Ihr Verständnis von Theater.

Das Theater ist ein Ort, an dem wir Teil eines größeren Ganzen werden, ohne unsere Individualität aufzugeben. Zudem ist es ein Ort, an dem Menschen sozialen Abgleich erfahren. Wir merken: Hier gibt es andere, die ähnlich funktionieren, die sich ähnlich berühren, unterhalten und aufrütteln lassen wie wir. Ins Theater zu gehen ist ein sinnliches Erlebnis, das sich in der Gemeinschaft erfahren lässt.

Inwiefern greift Ihre Arbeit politische Aspekte auf? 

Im Gegensatz zum Theater, wo aktuelle Themen direkt bearbeitet werden können, kann das Musiktheater aktuelle Themen nicht unmittelbar aufgreifen. Dieser Umstand bedingt sich aus der langen Vorlaufszeit, der es bedarf, um ein Musiktheaterstück fertigzustellen. Trotzdem ist das Musiktheater zwangsläufig politisch, da auch hier gesellschaftspolitische Themen verhandelt werden. 

Haben Sie in Tübingen einen Lieblingsort?

Während meines Studiums habe ich in einer WG in der Mühlstraße gewohnt. Wir waren zu fünft, aber ich war der einzige, dessen Zimmerfenster nach hinten zum Österberg gingen. In diesem Zimmer hatte ich meinen Schreibtisch so platziert, dass ich direkt auf den Berg blicken konnte. Ich genoss es sehr, nachts vom Schreibtisch aus in die Dunkelheit zu schauen, die den Berg umgab. Und das Gefühl zu haben, als einziger Mensch auf dieser Welt noch wach zu sein. Dieses Gefühl fand ich wahnsinnig produktiv! Seither habe ich immer in Tag und Nacht hell ausgeleuchteten Städten gelebt, was sehr anstrengend ist. In Tübingen dagegen konnte man in der Dunkelheit und dadurch irgendwie auch in der Zeit verloren gehen…

Das Interview führte Rebecca Hahn