Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 4/2023: Forschung

„Sport macht den Kopf frei für die Wissenschaft“

Frisbee-Europameisterin Jessica Rühle forscht zur Lungenkrankheit Bronchopulmonale Dysplasie (BPD)

„Sport macht den Kopf frei für die Wissenschaft“, sagt Jessica Rühle. Die frisch gebackene Europameisterin im Ultimate Frisbee muss es wissen. Im Interview spricht die Immunbiologin über ihr medizinisches Promotionsthema: Prophylaxe gegen Bronchopulmonale Dysplasie. Die Lungenkrankheit tritt bei Neugeborenen auf. 

Frau Rühle, was haben Ultimate Frisbee und Wissenschaft miteinander zu tun?

Oh, darüber habe ich noch nie ernsthaft nachgedacht. Auf alle Fälle ist beides Teamarbeit. Das bedeutet, jeder muss auf seinem Gebiet etwas können, was andere so nicht können und jeder muss bereit sein, sich selbst zurückzustellen und seine Fähigkeit für das gesamte Team einzusetzen. Für mich kommt hinzu, dass ich als Aufbauspielerin („Handler“) die Scheibe verteile, ich muss sehen, wie die gegnerische Defense aufgebaut ist und wer aus meinem Team gut steht, um ihn anzuspielen. Genauso muss man in der Forschung den Überblick behalten, oft haben wir es nicht nur mit einem Projekt zu tun, sondern mehreren parallel. Man muss mit Rückschlägen umgehen können, sich und andere Teammitglieder dann neu motivieren. Grundsätzlich tut es allerdings gut, ein Wochenende draußen zu sein, den Kopf frei zu bekommen und mal nicht an die Wissenschaft zu denken. Das ist wie ein Kurzurlaub. 

Sie beschäftigen sich mit Bronchopulmonale Dysplasie, kurz: BPD. Was ist das?

Die BPD ist eine chronische Lungenerkrankung. Sie ist eine der drei typischen Krankheiten von Neugeborenen, neben der neonatalen Sepsis (Blutvergiftung) und der Nekrotisierende Enterokolitis, einer verletzten Darmschleimhaut. Vor allem bei Frühgeborenen, die vor der 28. Schwangerschaftswoche geborenen werden, liegt die Inzidenz bei 40 Prozent. Hintergrund ist, dass die Lunge als letztes Organ ausgebildet wird und deswegen in dieser Zeit noch nicht voll funktionsfähig ist. Deshalb müssen die Frühgeborenen zusätzlich mechanisch beatmet werden, was wiederum zu Schädigungen in der Lunge führen kann. Die Krankheit ist leider schwer diagnostizierbar. Man sieht, dass die Neugeborenen schwerer und schneller atmen. Und außerdem sind die Kinder infektionsanfälliger. 

Die BPD hat langfristige Auswirkungen?

Wir beobachten, dass die Entwicklung der Kinder manchmal verzögert ist. Selbst bei Erwachsenen kann die Lungenkapazität noch eingeschränkt sein und es treten öfter asthmatische Erkrankungen auf. Deshalb suchen wir Wege, um eine Prophylaxe zu entwickeln, um die BPD zu verhindern. 

Wie sieht das konkret aus?

Wir verfolgen zwei Ansätze. Der eine basiert auf myeloiden Suppressorzellen, diese unterdrücken das Immunsystem. In unserer Arbeitsgruppe konnten wir erstmalig belegen, dass diese Zellen während der Schwangerschaft erhöht sind. Dadurch wird verhindert, dass es zu einer Abstoßungsreaktion gegen das ungeborene Kind kommt. Außerdem konnten wir zeigen, dass auch bei Neugeborenen die Anzahl der myeloiden Suppressorzellen erhöht ist. Welchen Effekt dieses Phänomen hat, können wir bisher noch nicht vollständig klären. Wir untersuchen, ob diese Zellen einen Einfluss auf die Entstehung der BPD haben. 

Und wie funktioniert der zweite Ansatz?

Viele Menschen kennen das Mikrobiom vom Magen-Darm-Trakt. Was noch nicht lange bekannt ist: Auch in der Lunge gibt es ein Mikrobiom, sehr viel kleiner als im Magen und Darm. Das ist gegenwärtig eine coole und sehr komplexe Forschung. Denn keine Bakterienart ist per se positiv oder negativ. Es ist das Zusammenspiel unterschiedlicher Arten, das positive Auswirkungen hat und damit die Entwicklung der Lunge beeinflusst. Unsere Idee ist, ob sich durch die Einatmung von bestimmten Probiotika, also den gesundheitsförderlichen Bakterien, BPD verhindern lässt. 

Wie weit sind Sie und die Forschungsgruppe mit der Arbeit?

Unser Ziel ist es, die Forschung und meine Promotion Ende kommenden Jahres abzuschließen. Wir sind aktuell in der Versuchsphase. Die Vorbereitung hat länger gedauert, weil wir ein spezielles experimentelles Setup für die BPD-Forschung einrichten mussten, um überhaupt das multifaktorielle Geschehen dieser Krankheit besser zu verstehen. 

Wie sind Sie als Biologin zu den Medizinern in der Neonatologie gekommen?

Während meines Masterstudiums in Molekularer Zellbiologie und Immunologie an der Universität Tübingen habe ich ein Forschungspraktikum in der Arbeitsgruppe von Natascha Köstlin-Gille in der Neonatologie gemacht. Dort hat es mir sehr gut gefallen hat und dank ihrer Unterstützung konnten wir gemeinsam mein Promotionsprojekt über die BPD nach meinem Masterabschluss starten.

Das Interview führte Jens Gieseler