Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 4/2023: Studium und Lehre
Nation, Krieg und Gender: Wie werden ukrainische Kämpferinnen in Onlinemedien dargestellt?
Ein Lehrforschungsprojekt in der Politikwissenschaft untersucht Fotos von „Ukrainian female identified fighters“
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj twitterte am 9. September 2022: „Der Krieg war vom ersten Tag der russischen Großinvasion an keine Angelegenheit von Frauen oder Männern, sondern von allen Bürgern.“ Schätzungen gehen von insgesamt 40.000 ukrainischen Kämpferinnen aus. Wie werden diese Frauen dargestellt, beispielsweise in Fotos auf Social Media? Und wie wird dabei Weiblichkeit konstruiert? Diese Fragen haben Florin Collmer, Theresa Hoff, Justus Raasch und Theresa Weigel, alle Studierende der Politikwissenschaft, in ihrem Lehrforschungsprojekt (LFP) „Die diskursive Konstruktion von Weiblichkeit durch die visuelle Darstellung ukrainischer female identified fighters“ untersucht.
Das LFP entstand im Rahmen des Seminars „Friedens- und Konfliktforschung und Gender Politics“ unter Leitung von Dr. Hendrik Quest. In einem Lehrforschungsprojekt geht es in erster Linie um das Kennenlernen grundlegender Methoden der Empirischen Sozialforschung bzw. der Politikwissenschaft und ihre praktische Anwendung.
Die vier Studierenden haben für ihr Projekt eine visuelle Diskursanalyse durchgeführt, in Anlehnung an die Performanztheorie der feministischen Philosophin Judith Butler und die Diskursanalyse nach Michel Foucault. Für Judith Butler ist die Binarität von Geschlecht mit den beiden Kategorien Mann und Frau nichts Natürliches, sondern ist konstruiert durch Normen und Verhaltensweisen und wird ausgehandelt durch die gesellschaftliche Wahrnehmung und Erwartungen. Geschlecht (gender) ist somit nicht etwas, das man hat, sondern etwas, das man tut („doing gender“).
„Zu Beginn des Krieges gegen die Ukraine wurde ein Ausreiseverbot für Männer verhängt, während Frauen ins Ausland reisen durften bzw. zum Teil auch sollten, um dort Schutz zu suchen“, berichtet Justus Raasch. „Es wurde also versucht, zwei ganz klare Geschlechterkategorien zu konstruieren. Uns haben in diesem Zusammenhang die gesellschaftlichen Bruchlinien interessiert: Was bedeutet es, dass es Männern nicht frei stand zu fliehen, Frauen hingegen schon? Welche Konflikte entstehen dadurch, dass tatsächlich viele Frauen nicht geflohen sind, sondern stattdessen an der Front kämpfen und damit bewusst in die männliche Domäne des Militärs gehen – während gleichzeitig auch Männer verpflichtend eingezogen wurden, die lieber geflohen wären?“
Die Projektgruppe untersuchte Fotos von Ukrainian female identified fighters: Personen, die sich nach Definition der Studierenden selbst als Frau identifizieren oder von anderen als Frau gelesen werden – und die außerdem als Teil der ukrainischen Armee erkennbar sind, etwa durch Uniformen, Waffen oder Abzeichen. Es ist dabei weder relevant, ob diese Personen anatomisch weiblich sind noch ob sie tatsächlich kämpfen oder nur als Kämpferinnen abgebildet sind.
Florin Collmer ergänzt: „Kriegsfotografien bilden nicht einfach nur objektiv oder neutral die Realität ab, sondern spiegeln auch Machtverhältnisse, Machtinteressen oder kulturelle Kontexte wider.“
Setting
Zu Beginn wählten die Studierenden drei sehr unterschiedliche und zugleich charakteristische Startbilder aus. „Das erste Bild [Titelbild des verlinkten Beitrags] stellt die Hochzeit einer Scharfschützin im Brautkleid dar, ihr Mann trägt Uniform. Es zeigt den Kontrast von ziviler und militärischer Identität der Frau und eine klare binäre Geschlechtsidentität mit Frau und Mann. Auf dem zweiten Foto sind männlich gelesene Soldaten zu sehen, weiblich gelesene Kämpferinnen fehlen. Es verdeutlicht die traditionell männliche Konnotation von Militär, Frauen werden marginalisiert bzw. sind nicht sichtbar. Das dritte Foto [Bild 5 des verlinkten Instagram Karussell-Posts] zeigt eine Kämpferin im aktiven Kampfgeschehen. Hier wird eine Bruchlinie mit dem traditionellen Bild von Weiblichkeit – die Frau als friedfertig, passiv oder Opfer – deutlich. Gleichzeitig spiegelt sich aber hier auch die Realität des aktuellen Krieges wieder“, sagt Florin Collmer. „Alle drei Bilder sind besonders relevant für den innerukrainischen Diskurs, denn sie wurden im Netz tausendfach geteilt und kommentiert, auch von ukrainischen Prominenten“, erklärt er.
Die drei Startfotos wurden mit ikonografischen Bildanalyseverfahren detailliert untersucht. Dabei erstellten die Studierenden eine Liste mit weit über 100 Codes, markanten Details, die sie in diesen Bildern entdeckt haben. Darunter sind äußerliche Attribute wie ‚Haare hochgesteckt‘ oder ‚lackierte Fingernägel‘, aber auch Formen der menschlichen Interaktion oder Symbole wie ‚Ukrainische Flagge‘ oder ‚Blumen‘.
Schließlich wählte die Projektgruppe zu den drei Startbildern aus ukrainischen Social-Media-Kanälen je zehn Vergleichsbilder mit demselben Grundthema und mit hoher Verbreitungsrate aus – immer fünf Bilder mit einer sehr ähnlichen Darstellung des Grundthemas und fünf Bilder mit einer sehr stark kontrastierenden Darstellung. „Für das Startbild mit der kämpfenden Frau haben wir fünf Bilder ausgewählt, die ebenfalls Frauen als aktive Kämpferinnen zeigen, sowie fünf Bilder mit Kampfhandlungen, auf denen Frauen aber eher passiv zu sehen sind“, erläutert Justus Raasch die Auswahl. „Nachdem wir diesen Bildkorpus zusammengestellt hatten, wurden alle Bilder nach den von uns erstellten Codes gescannt und mit dem Programm MAXQDA, einem speziellen Tool für qualitative Forschung, ausgewertet.“
Ergebnisse der Studie
Vergleichbare Studien zu female identified fighters gibt es bislang vor allem zu kurdischen Kämpferinnen und insbesondere zu Israel, einem Land mit einer langen Tradition weiblicher Soldatinnen. „In Israel sind die sogenannten Idf (Israeli defence force) girls sehr populär, weiblich gelesene Soldatinnen, die sich auf Social Media mit der Kombination Frau und Kämpferin selbst präsentieren. Viele Darstellungen von Weiblichkeit aus den von uns ausgewerteten Vergleichsstudien konnten wir auch in unserer Studie feststellen: die friedfertige Frau; das Militär als männlicher Raum, symbolisiert durch Kämpferinnen mit männlichen Attributen oder durch Abwesenheit von weiblichen Kämpferinnen; die heldenhafte Frau und nicht zuletzt die ästhetisierte schöne Frau “, sagt Justus Raasch.
Auffällig bei der Darstellung der Ukrainian female identified fighters war für die Studierenden der durchgängig sehr enge Zusammenhang der Themen Nation, Krieg und Gender – unabhängig davon, wie Weiblichkeit auf den jeweiligen Fotos dargestellt wurde. Teilweise fanden sie Darstellungen wie die friedfertige oder die heldenhafte Frau auch nebeneinander auf ein und demselben Foto. Immer standen die Darstellungen aber im Kontext der ukrainischen Nation – als staatlicher Einheit (Farben, Flaggen, offizielle Repräsentanten) oder auch als sozialer Gemeinschaft (Familie, Ehepaar, Kampfverbünde).
„Wir können sagen, dass der visuelle Diskurs in unserem Setting Weiblichkeit unterschiedlich konstruiert und dabei traditionelle Konzeptionen von Weiblichkeit bis zu einem gewissen Maß weiterentwickelt werden. Die Ausnahmesituation des Krieges stellt gesellschaftliche Normalitäten in fundamentaler Art und Weise in Frage. Um diese Spannung zu harmonisieren und gewissermaßen eine Art Orientierung in der vertrauten Realität herzustellen, wird aber im ukrainischen Diskurs als ‚letzte Gewissheit‘ auf die Binarität von Geschlecht zurückgegriffen. Das traditionelle Modell der Zweigeschlechtigkeit wird nicht grundsätzlich in Frage gestellt – trotz und gerade auch wegen der existenziellen Bedrohung“, fasst Florin Collmer die Ergebnisse zusammen.
Maximilian von Platen
Einordnung des Lehrforschungsprojekts
Im Mittelpunkt eines Lehrforschungsprojekts steht das Erlernen einer Methodik und deren praktische Anwendung. Die vier Studierenden betonen, dass sie im Rahmen ihres LFP nur einen ganz kleinen Ausschnitt des ukrainischen Diskurses zur Konstruktion von Weiblichkeit untersuchen konnten. Alle vier sprechen weder Ukrainisch noch Russisch und waren auch noch nicht selbst in der Ukraine, haben also nur die Perspektive von außen. Auch die Beschränkung auf eine kleine Auswahl von insgesamt 32 untersuchten Fotos auf Social-Media-Kanälen kann nur einen Ausschnitt des Diskurses abbilden. Die Autorinnen und Autoren sprechen daher auch in ihrer Einleitung von ‚Diskurs-Fragmenten’.
Folgende Methoden wurden von den Studierenden in ihrem LFP eingesetzt:
- Performanztheorie nach Judith Butler
- Diskursanalyse nach Michel Focault
- visuelle Diskursanalyse nach Gilian Rose
- semiotisch-ikongrafisches Bildanalyseverfahren nach Stefan Meier
- ikonografisch-ikonologisches Bildanalyseverfahren nach Erwin Panofsky
- qualitative Auswertung mit dem Programm MAXQDA