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06.06.2019
Untersuchungskommission stellt wissenschaftliches Fehlverhalten durch Tübinger Hirnforscher fest
Gremium der Universität Tübingen kritisiert Wissenschaftler für Umgang mit Untersuchungsdaten und fordert Konsequenzen
Eine Untersuchungskommission der Universität Tübingen hat im Fall zweier Hirnforscher wissenschaftliches Fehlverhalten festgestellt. Die Kommission kam nach der Überprüfung einer im Fachmagazin PLOS Biology veröffentlichten Studie zu dem Ergebnis, dass Untersuchungsdaten in relevantem Umfang nicht ausgewertet beziehungsweise nicht berücksichtigt wurden. Die Kriterien für den Ausschluss dieser Daten seien von den Forschern nicht transparent gemacht worden. Darüber hinaus ließen sich die in der Studie publizierten Ergebnisse in vielen Fällen nicht auf das vorhandene Datenmaterial zurückführen. Das Rektorat der Universität kündigte Konsequenzen an.
Eine Forschergruppe unter der Leitung eines Seniorprofessors der Universität Tübingen hatte im Jahr 2014 Untersuchungen an insgesamt vier Patienten durchgeführt, die an fortgeschrittener Amyotropher Lateralsklerose (ALS) erkrankt waren. ALS ist eine neurodegenerative Erkrankung, die dazu führt, dass Betroffene schrittweise die Fähigkeit verlieren, ihre Muskulatur zu steuern. Im Endstadium sind Patienten vollständig gelähmt und nicht mehr in der Lage, sich ihrer Umgebung mitzuteilen. Man spricht dann von einem „Completely Locked-In Status“. Die Hirnforscher hatten in der Vergangenheit versucht, eine Technik zu entwickeln, um mit diesen vollständig gelähmten Patienten wieder kommunizieren zu können. Dazu wurde die Hirnaktivität mit Hilfe von Infrarotspektroskopie und Elektroenzephalographie (EEG) gemessen. Die Wissenschaftler nahmen an, dass aus diesen Messdaten Rückschlüsse auf die Gedanken der Patienten möglich sind.
Wie die Kommission für Fehlverhalten in der Wissenschaft in ihrem Beschluss feststellt, stieß das Untersuchungsgremium auf eine Reihe von Verstößen gegen die gute wissenschaftliche Praxis:
- Selektive Datenauswahl bei der Datenerhebung
Die Wissenschaftler haben nach dem Ergebnis der Kommission einen Teil ihrer Datensätze bei der Auswertung nicht berücksichtigt, ohne klar definierte und nachprüfbare Kriterien für ihre Auswahl festzulegen. Vielmehr blieben Daten teils aufgrund von angeführten technischen Problemen bei der Erhebung, teils aufgrund persönlicher Entscheidungen des Seniorprofessors unberücksichtigt. Diese Praxis stellt nach Einschätzung der Kommission eine „Verfälschung von Daten durch Zurückweisen unerwünschter Ergebnisse ohne Offenlegung“ dar und steht zudem im Widerspruch zu Angaben, die beide Wissenschaftler in ihrem Fachartikel selbst gemacht haben.
- Fehlende Offenlegung von Daten und Skripten
In ihrem Fachartikel haben die Wissenschaftler Internet-Links gesetzt, die den Leser zu verschiedenen Datensätzen führen sollen. Darunter fehlt nach dem Ergebnis der Kommission jedoch das Skript, mit welchem einem Computerprogramm Vorgaben zur Auswertung der Daten gemacht wurden. Nach Aufforderung der Kommission hat einer der beiden Hirnforscher dem Gremium zwar Daten zur Verfügung gestellt. Auch aus diesen Daten ließen sich die im Artikel gemachten Angaben jedoch nicht nachvollziehen. Bis zum Abschluss der Untersuchung haben die beiden Wissenschaftler keinen vollständigen Datenbestand nachgewiesen. So fehlen beispielsweise auch die im Artikel dargestellten EEG-Daten. Die Kommission erkennt darin eine „Verfälschung von Daten durch Unterdrücken von relevanten Belegen“.
- Fehlende Daten
Die Wissenschaftler haben nach eigener Darstellung die von ihnen entwickelte Technik einer Gehirn-Computer-Schnittstelle (BCI) bei insgesamt vier Patienten eingesetzt. Die Zahl der Tage, an denen BCI bei den einzelnen Patienten eingesetzt wurde, variiert nach den Angaben im genannten Fachartikel zwischen 6 und 17 Tagen pro Patient. Nach den Ermittlungen der Kommission stimmt die Anzahl der Tage, zu denen Daten vorliegen, mit der Anzahl der Tage, für die im Artikel Auswertungen dargestellt werden, in keinem Fall überein. Beispielsweise wurden bei einem Patienten in PLOS Biology Ergebnisse für zwölf Tage aufgeführt. Der Kommission lagen jedoch nur Daten für acht Tage vor. Bei einem weiteren Patienten werden im Artikel Ergebnisse für 14 Tage aufgeführt, obwohl der Kommission nur Daten für zwölf Tage vorlagen. Die Kommission schloss daraus, dass im Artikel Ergebnisse dargestellt wurden, zu denen keine Daten vorliegen.
- Mögliche Datenverfälschung durch fehlerhafte Analyse
Die beim Einsatz am Patienten mittels BCI erzeugten Rohdaten sind von den Wissenschaftlern mithilfe elektronischer Datenverarbeitung analysiert worden. Wesentliche Software-Komponenten der eingesetzten EDV-Systeme wurden von den Wissenschaftlern gegenüber der Kommission nicht offengelegt, so dass eine Beurteilung der eingesetzten Methoden nicht möglich war. Ob die computergestützte Auswertung der Daten korrekt validiert wurde, ließ sich nicht mehr nachvollziehen. Die Kommission konnte allerdings ermitteln, dass ein ehemaliger Mitarbeiter des Seniorprofessors diesen bereits im November 2015 darauf hingewiesen hatte, dass sich aus den Daten in statistisch korrekter Auswertung keine signifikanten Ergebnisse belegen lassen. Diese Informationen legen nach Ansicht der Kommission nahe, dass eine Datenverfälschung stattfand.
Universität kündigt Anlaufstelle für Patienten an
Die Kommission hat dem Rektorat der Universität in ihrem Beschluss eine Reihe von Konsequenzen vorgeschlagen. So forderte das Gremium, die beiden Wissenschaftler müssten die umstrittene Studie in PLOS Biology zurückziehen. Ergänzend müssten die Herausgeber der Zeitschrift ebenfalls aufgefordert werden, die Studie zurückzuziehen. Alle Organisationen, die die Studie finanziell gefördert hätten, sowie die Spitzenverbände der deutschen Krankenkassen seien ebenfalls über das Ergebnis zu informieren. Für alle Publikationen, an denen die beiden betroffenen Wissenschaftler seit 2014 mitgewirkt haben, schlägt das Gremium eine nachträgliche Überprüfung durch externe Gutachter vor. Darüber hinaus forderte die Kommission das Rektorat auf, den Status des Seniorprofessors der Universität Tübingen zu überprüfen. Nicht zuletzt wird in dem Beschluss angeregt, eine Anlaufstelle für die betroffenen Patienten und ihre Angehörigen zu schaffen.
Der Rektor der Universität, Professor Bernd Engler, sagte, die Hochschulleitung werde über die Empfehlungen der Kommission beraten und sehr zeitnah die nun gebotenen Schritte einleiten. Wichtigste Aufgabe sei es, zügig ein Beratungsangebot für die betroffenen Patientinnen und Patienten sowie ihre Angehörigen zu schaffen. Die Betroffenen könnten sich in dieser Angelegenheit an das Dekanat der Medizinischen Fakultät wenden. Engler dankte den Kommissionsmitgliedern und den Vertrauensleuten für ihre zielstrebige Arbeit. Die beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hätten sich akribisch und mit hohem Aufwand in eine komplizierte Materie eingearbeitet und ihre Untersuchungen sehr zeitnah abgeschlossen. „Kommission und Vertrauensleute haben unter Beweis gestellt, dass die Kontrolle der Wissenschaft durch unabhängige Forscherinnen und Forscher an der Universität Tübingen funktioniert“, sagte der Rektor.
Die Überprüfung der in PLOS Biology publizierten Studie war im Frühjahr 2018 durch einen wissenschaftlichen Mitarbeiter der Universität ausgelöst worden, der sich an die Vertrauensleute der Medizinischen Fakultät gewandt hatte. Die Vertrauensleute untersuchten die Vorwürfe rund ein halbes Jahr lang intensiv und übergaben ihren Bericht schließlich am 22. November 2018 an die universitäre Kommission für Fehlverhalten in der Wissenschaft. Die Kommission beschloss daraufhin Anfang 2019, ein förmliches Verfahren einzuleiten.
Engler betonte, für eine internationale Forschungsuniversität sei die Einhaltung der Prinzipien guter wissenschaftlicher Praxis von fundamentaler Bedeutung: „Vor diesem Hintergrund unternehmen wir seit vielen Jahren erhebliche Anstrengungen, allen Forschenden und Studierenden die Prinzipien guter Wissenschaft nahezubringen.“ Die Universität werde den aktuellen Fall – unabhängig von den weiteren Schritten – zum Anlass nehmen, ihre Anstrengungen nochmals zu erhöhen: „Wir werden künftig innerhalb der Universität noch deutlicher kommunizieren, dass wir über ein klares Regelwerk und verlässliche Strukturen verfügen, auf die jede Wissenschaftlerin und jeder Wissenschaftler zurückgreifen kann, sobald ein begründeter Verdacht auf wissenschaftliches Fehlverhalten vorliegt.“ Hinweisgeber, die sich an Vertrauenspersonen wenden, hätten in solchen Fällen selbstverständlich ein Anrecht darauf, vor Repressalien geschützt zu werden. Jedes Mitglied der Universität habe hier Verantwortung gegenüber der Wissenschaft und ihrer Glaubwürdigkeit zu übernehmen.
Kontakt:
Dr. Karl G. Rijkhoek
Universität Tübingen
Hochschulkommunikation
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