Uni-Tübingen

Hannah Miehle

Assoziierte Kollegiatin

Akademischer Werdegang

10/2006 – 05/2011 Studium der Fächer Biologie, Deutsch und Kath. Theologie (Erweiterungsfach); Abschluss: Staatsexamen
Eberhard-Karls-Universität Tübingen
12/2006 – 05/2011 Stipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes
seit 06/2011 Promotion: „Irritationen des Mitleids – Vermittlung von Heilswissen in den Passionsspielen des späten Mittelalters“ (Arbeitstitel)
Eberhard-Karls-Universität Tübingen

Berufliche Stationen

05/2008 – 08/2009 Wissenschaftliche Hilfskraft am Lehrstuhl für Deutsche Philologie/Mediävistik von Prof. Dr. Klaus Ridder, Eberhard-Karls-Universität Tübingen
seit 06/2011 Wissenschaftliche Angestellte im Rahmen des Graduiertenkollegs 1662 „Religiöses Wissen im vormodernen Europa (800–1800)“

„Irritationen des Mitleids – Vermittlung von Heilswissen in den Passionsspielen des späten Mittelalters“ (Arbeitstitel)

Seit dem 13. Jahrhundert gewinnt die Passionsmystik zunehmend an Bedeutung. Die durch sie angestrebte innere Haltung ist die ‚compassio’, und diese sollte im Rahmen der Passionsspiele vor allem dadurch erreicht und verstärkt werden, dass bestimmte Szenen der Passion ausgeschmückt und nach ästhetischen Gesichtspunkten bearbeitet wurden. Vor allem betraf das diejenigen Szenen, welche das Leiden Jesu besonders deutlich vor Augen stellen: der Verrat und die Verurteilung, die Verhöhnungen und die Geißelung, die Kreuzigung, die Einsamkeit Jesu und sein Tod. Dadurch sollte eine Distanz zwischen den Zuschauern und dem Geschehen auf der Bühne verhindert werden: Die Zuschauer sollten dem dargestellten Geschehen ohne inneren Abstand folgen, sie sollten sich vollkommen ihrer Anteilnahme und ihrem Mitleiden hingeben, um dann tatsächlich an der durch den Tod Jesu den Menschen zuteil gewordenen Gnade Anteil zu haben, um erlöst zu werden.

Vor diesem Hintergrund fällt es auf, wie eindeutig Jesus dabei die Opferrolle zugewiesen wird; seine außerordentliche Duldsamkeit und Schweigsamkeit wirkt über weite Teile beinahe passiv, teilnahmslos, wohingegen jene, die ihn peinigen, in ihrer Aggression, Boshaftigkeit und ihrem Hohn eine große Präsenz zeigen. Dominierend erscheint also auf der einen Seite die Lust der Peiniger an ihren sadistischen Quälereien, auf der anderen Seite die unsägliche, gleichzeitig aber auch beispielhafte Trauer Mariens; beides soll die ‚compassio‘ des Zuschauers verstärken. Durch die so eindeutig angelegten Figuren, eventuell auch durch die nach wie vor bestehende Verbundenheit der Passionsspiele mit Formen der Liturgie und des Rituals, scheinen die Spiele in ihrer Anlage sehr stereotyp und eindeutig zu verstehen. Kritisch kann sogar angemerkt werden, das mittels einer solchen Darstellung unter dem Schutz einer vordergründig textnahen Veranschaulichung des Passionsgeschehens ein klassisches Sündenbockritual vollzogen wird, an dem die Zuschauer unmittelbar Anteil haben können, um so letztendlich für sich selbst eine Erfahrung der Entlastung zu machen.


Würde man dieser Einschätzung bedingungslos folgen, so hieße das aber in der Konsequenz, dass die hinter dem Passionsgeschehen stehende Deutung des Todes Jesu in beinahe schon unverantwortlicher Art und Weise reduziert wäre. Blickt man dabei nur auf die Darstellung der Person Jesu, mag man geneigt sein, einer solchen Annahme auch zu folgen. Doch eine so holzschnittartige Interpretation der durch die geistlichen Spiele vermittelten Theologie erscheint mir unbefriedigend. Der Kreuzestod Jesu beinhaltet selbstredend wesentlich mehr Potential als nur dasjenige, dass Jesus schweigend und schicksalsergeben „gehorsam [war] bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz“ (Phil 2,8). Schon die vier Evangelien unterscheiden sich in ihrer Darstellung des Passionsgeschehens: Details werden unterschiedlich motiviert, Ereignisse in verschiedener Weise interpretiert. Beispielsweise denke man nur daran, wie unterschiedlich der Verrat des Judas angelegt und in welcher Weise von seinem weiteren Schicksal berichtet wird.

Ich möchte in meiner Arbeit untersuchen, in wie fern es innerhalb der Passionsspiele Szenen und Elemente gibt, die neben den – für das Theater sehr reizvollen – Kategorien von ‚gut und böse‘ bzw. ‚Täter und Opfer‘ diese theologisch anspruchsvolleren Ebenen der Darstellung und Interpretation in die Spiele des späten Mittelalters integrieren. Es stellt sich die Frage, wie biblisch angelegte Spannungsstellen im Spiel umgesetzt werden, was dann zweifellos Irritationen evoziert, da die scheinbar klaren Verständniskategorien von ‚gut‘ und ‚böse‘ nicht mehr greifen.

Folgt man beispielsweise dem scheinbar so eindeutigen (Selbst-)Verständnis der Passionsspiele, so muss folgende Personenkonstellation für die Zuschauer irritierend und herausfordernd gewirkt haben: Im Donaueschinger Passionsspiel versucht der Teufel die Frau des Pilatus zu verführen und sie dazu zu bringen, auf Gnade für Jesus zu plädieren. Die Szene hat ihren biblischen Bezug bei Mt 27,19: „Während Pilatus auf dem Richterstuhl saß, ließ ihm seine Frau sagen: Lass die Hände von diesem Mann, er ist unschuldig. Ich hatte seinetwegen heute Nacht einen schrecklichen Traum.“ Im Spiel jedoch ist es nicht ein Traum, sondern der Teufel, welcher die Frau dazu verführt, bei ihrem Mann für Jesus zu bitten, da dieser der Gerechte Gottes sei. Augenscheinlich eine Szene, die irritiert: Die Quälereien Jesus gegenüber wurden bis zu dieser Szene drastisch ausgemalt und das Publikum hat all diese Verspottungen, Verhöhnungen und Misshandlungen voller Anteilnahme mitverfolgt – und plötzlich scheint ausgerechnet der Teufel Partei für Jesus zu ergreifen und ihn aus seiner schlimmen Lage befreien zu wollen. Doch es wird schnell deutlich, dass es sich dabei um eine Fehlinterpretation handeln muss. Die eigentliche Gefahr für die Gläubigen geht vor allem davon aus, dass die Kreuzigung verhindert werden könnte, denn dann würde der Heilsplan nicht vollendet werden und ihnen würde keine Erlösung zuteil – darin bestünde die eigentlich teuflische Tat.

Ebenso interessant sind auch Elemente innerhalb der Spiele, welche vergleichbare Spannungsstellen eigenständig schaffen, indem beispielsweise Figuren ihre eigene Rolle reflektieren wie Judas im Donaueschinger Passionsspiel kurz vor seinem Selbstmord. Für einen kurzen Moment bekommt auch Judas, obwohl er so eindeutig den ‚Tätern‘ zugehörig zu sein scheint, menschliche Züge zugesprochen. Die Verzweiflung des Judas rührt ohne Frage an und erlaubt es dem Zuschauer nicht, in eine teilnahmslose Rezeptionshaltung zu verfallen. Die Verzweiflung ist es, die Judas zu seinem Selbstmord treibt, und die große Einsamkeit und Selbstverleugnung, die aus seiner Klage spricht, macht durchaus betroffen. Es ist vorstellbar, dass dieser Auftritt des Judas Mitleid und, was aus der Perspektive der Passionsspiele heraus natürlich fatal wäre, Verständnis für seinen Selbstmord ausgelöst haben könnte. Die Art und Weise, wie Judas hier den Teufel anruft und ihn bittet, ihm Ruhe vor seinem schmerzenden Gewissen zu verschaffen, macht zwar (durch die Parallelität der Anrufungsformeln) deutlich, dass es eigentlich Gott sein sollte, der mit solchen Bitten angerufen werden soll, aber für Judas ist es ja gerade die Schuld Gott gegenüber, die ihm solche Qualen verursacht. In gewisser Weise ist es also verständlich, wenn auch sicher nicht richtig, dass er in dieser Situation nicht Gott anrufen kann. Doch ein solcher Eindruck wäre in einem Passionsspiel, was ja mit so hohen heilsgeschichtlichen Erwartungen für die Zuschauer verbunden ist, nicht nur unerwünscht, sondern regelrecht gefährlich! Daher muss der anschließende lange Auftritt des Teufels dafür sorgen, dass die Verzweiflung als eigentlich auslösende Motivation für den Selbstmord in den Hintergrund tritt. Der Teufel hilft Judas aktiv bei seinem Selbstmord und legt diesem sogar den Strick um den Hals, so dass unmissverständlich klar wird, dass sich Judas ein weiteres Mal zum Gesellen des Teufels gemacht hat. Effektvoll reißt der Teufel Judas die Brust auf, aus welcher dann ein schwarzer Vogel fliegt – ein Sinnbild für die schwarze Seele des Judas –, anschließend fallen die Gedärme aus seinem Körper. Zuletzt wird Judas also gezeigt als einer, der dem Teufel gehört und seine Höllenstrafen erleiden muss, was angesichts dessen, dass er sich erneut von diesem hat verführen lassen, gerechtfertigt scheint. Für kurze Momente jedoch blitzte eine Lesart auf, in welcher Judas als Stellvertreter der unvollkommenen und verführbaren Menschen erscheint, welcher gerade dadurch verständlich wird, dass er sich in diesen Eigenschaften nicht wesentlich von den Zuschauern der Passionsspiele unterscheidet. Und die Frage wird umso drängender, ob die ‚übergroße Gnade‘ (vgl. Röm 5,20) Gottes, seine Barmherzigkeit, welche in Kreuzigung und Auferstehung endgültig zur Gewissheit der Menschen wird, nicht auch Judas zuteil werden kann.

Wenn die biblische Vorlage der Passion ergänzt wird durch deutende Szenen aus dem Alten Testament wie es unter anderem im Heidelberger Passionsspiel der Fall ist, eröffnen sich ebenfalls interessante Einblicke in den differenzierenden und interpretierenden Umgang mit der Komplexität und Ambivalenz der Passion und des Opfertodes Jesu.

Nicht zu vergessen sind auch jene Szenen, in welcher Drastik oder Komik zur dominierenden Kraft werden und das eigentliche Anliegen der Spiele in den Hintergrund treten lassen. Es ist leicht vorstellbar, dass eine derart exzessiv ausgelebte Emotionalität, zu welcher der Precursor in den meisten Spielen sogar explizit aufruft, ein gefährliches Potential birgt: In einer emotional so aufgeheizten Stimmung kann es leicht zu Spannungen und zu unerwünschten Effekten kommen. Die Atmosphäre kann schnell kippen, was Aggression und Schlägereien, im Fall der Passionsspiele sogar Judenpogrome zur Folge haben konnte. Ebenso kann sich die angestrebte und erhoffte Wirkung der Stücke in ihr Gegenteil verkehren, wenn beispielsweise bei den Passionsspielen die Faszination an der Gewalt über das intendierte Mitleidsempfinden siegt.
Solche unerwünschten Effekte galt es zu verhindern und ein Mittel dazu wäre eben, die Vielschichtigkeit des Dargestellten immer wieder in das Bewusstsein der Zuschauer zu holen. Nur, wenn der Zuschauer immer wieder irritiert wird und er seine innere Haltung dem Dargestellten gegenüber überdenken muss, wird er dazu befähigt, die Bedeutung der Passion in einem umfassenden Sinn – auch in ihrer letztendlich nie aufzulösenden Unzugänglichkeit – zu erahnen.

Mittels solcher Bruchstellen (wie hier beispielhaft beschrieben), in welchen die Spiele scheinbar ‚aus der Rolle fallen‘, wird verhindert, dass die Passionsspiele in der Darstellung eines Dualismus erstarren. In der Vergegenwärtigung des Leidens und Sterbens Jesu geht es eben nicht nur um das Mitleiden und Mitempfinden; der Tod Jesu und seine nicht davon zu trennende Auferstehung haben sich bereits vollzogen, mit der Konsequenz, dass jeder Gläubige auf seine Erlösung hoffen darf. Immer wieder wird der mitfühlende Zuschauer irritiert, immer wieder emanzipieren sich die Spiele von ihrer biblischen Vorlage und der liturgischen Tradition, immer wieder integrieren sie an den Rand gedrängte Aspekte und Ambivalenzen des Opfertodes Jesu und bringen diese zur Darstellung. Gerade diese ‚Bruchstellen‘ sind notwendig, so meine These, um die Balance zwischen dem theatralisch wirksamen Bild der Täter-Opfer-Beziehung und der freien Entscheidung zur endgültigen Erlösungstat Jesu im Tod am Kreuz und deren Bedeutung für die Menschen zu halten. Diese Stellen zu finden und sie vor dem Hintergrund der biblischen Vorlage zu interpretieren ist das Ziel meiner Arbeit.